Kollisionsgefahr beurteilen
Der Sinn der Kollisionsverhütungsregeln (KVR) liegt darin, Kollisionen zwischen Wasserfahrzeugen zu verhindern. Dafür müssen die Beteiligten aber erstmal erkennen, dass die Gefahr einer Kollision besteht. Regel 7 a) der KVR bestimmt: “Jedes Fahrzeug muss mit allen verfügbaren Mitteln entsprechend den gegebenen Umständen und Bedingungen feststellen, ob die Möglichkeit der Gefahr eines Zusammenstoßes besteht. Im Zweifelsfall ist diese Möglichkeit anzunehmen.” Ein Stück weiter unten im Text kommt dann die anwendungsfähige Definition für Kollisionsgefahr: “Eine solche Möglichkeit [d.h. der Gefahr einer Kollision] ist anzunehmen, wenn die Kompasspeilung eines sich nähernden Fahrzeugs sich nicht merklich ändert” (SR 35).
Wenn ihr also an Deck steht und mit dem Handpeilkompass ein sich näherndes Schiff anpeilt, habt ihr die Kompasspeilung. Dann macht ihr das ein paar Minuten später erneut und schaut euch die Werte an. Wenn sie nahezu identisch sind, seid ihr auf Kollisionskurs.
Reality Check
In der Realität peilt man die anderen Schiffe nicht mehr von Hand an. Wenn das andere Schiff noch weit entfernt ist, schaut ihr am besten auf das AIS oder das Radar. Ihr habt hoffentlich ein einigermaßen modernes Gerät an Bord, das zeigt euch nämlich auf dem Bildschirm an, ob Kollisionsgefahr besteht. Für die Schiffe, die schon in eurer Nähe sind, braucht ihr ebenfalls keine Kompasspeilung vorzunehmen. Erstens ist dazu dann wahrscheinlich keine Zeit mehr, außerdem erkennt man es auch ohne Kompass und im Zweifel soll man ja ohnehin von einer Kollisionsgefahr ausgehen und entsprechend handeln.
Ok, also angenommen, es besteht Kollisionsgefahr. Dafür gibt es in den KVR eine Reihe von Ausweichregeln, mit denen die Kollision noch verhindert werden soll. In den KVR gibt es 2 Rollen, die dabei wichtig sind: Ausweichpflichtiger und Kurshalter. Den Begriff “Vorfahrt” gibt es in den KVR nicht, aber in der SeeSchStrO, dazu später mehr. Die Ausweichregeln der KVR gelten übrigens nur für Fahrzeuge, die einander in Sicht haben. Das wiederum ist so definiert: “Fahrzeuge gelten nur dann als einander in Sicht befindlich, wenn jedes vom anderen optisch wahrgenommen werden kann.” Das ist wichtig, weil es den Kontakt ausschließlich über Radar oder AIS nicht mit einschließt. Denn dafür gibt es wieder andere Regeln. Schauen wir uns zuerst die Ausweichregeln für Fahrzeuge an, die einander in Sicht haben.
Für die Beurteilung der Situation ist dabei übrigens immer der Augenblick des ersten Insichtkommens entscheidend. In diesem Augenblick werden die Rollen verteilt, also wer Ausweichplichtiger ist und wer (gegebenenfalls) Kurshalter. Eine spätere Änderung der Lage der Fahrzeuge zueinander verändert nicht die Verantwortlichkeit. (SR 42)
Reality Check
Die Regel mit dem ersten Insichtkommen ist gut gemeint, aber in der Praxis unter Sportbooten nicht durchzuhalten. Denn auf Sportbooten gibt es üblicherweise keine Möglichkeit, die Positionen und Bewegungen von anderen Fahrzeugen aufzuzeichnen. Das wäre aber nötig, um sich dann, wenn Kollisionsgefahr entstanden ist, daran zu erinnern, wie die Situation beim ersten Insichtkommen war. Außerdem kann ich mir nicht vorstellen, dass man sich im Falle einer Kollision damit rausreden kann, dass das andere Segelboot doch vor 2 Stunden noch den Wind von der anderen Seite hatte als es erstmals in Sicht kam, und deshalb ausweichpflichtig gewesen wäre.
Richtig ausweichen
Wenn ihr in einer Situation kurshaltepflichtig seid, müsst ihr Kurs und Geschwindigkeit möglichst beibehalten. Soweit, so gut. Aber ihr wollt natürlich wissen, ob das andere Fahrzeug seiner Ausweichpflicht nachkommt. Und deshalb verlangen die KVR, dass Ausweichmanöver “entschlossen, rechtzeitig und so ausgeführt werden, wie gute Seemannschaft es erfordert.” “Jede Änderung des Kurses und/oder der Geschwindigkeit zur Vermeidung eines Zusammenstoßes muss, wenn es die Umstände zulassen, so groß sein, dass ein anderes Fahrzeug optisch oder durch Radar sie schnell erkennen kann; aufeinanderfolgende kleine Änderungen des Kurses und/oder der Geschwindigkeit sollen vermieden werden.”
Also, das bedeutet dann eben auch, wenn ihr ausweichpflichtig seid, macht ihr am besten frühzeitig eine (einzige) deutliche Kursänderung, so dass diese vom anderen Fahrzeug aus gut erkannt wird. In den KVR steht wörtlich: “Jedes ausweichpflichtige Fahrzeug muss möglichst frühzeitig und durchgreifend handeln, um sich gut klar zu halten.” Vom anderen Fahrzeug aus soll eure Absicht klar erkennbar sein, damit sie sich gut freihalten können. (SR 36) Weiterhin heißt es in den KVR: “Ein Manöver zur Vermeidung eines Zusammenstoßes mit einem anderen Fahrzeug muss zu einem sicheren Passierabstand führen. Die Wirksamkeit des Manövers muss sorgfältig überprüft werden, bis das andere Fahrzeug endgültig vorbei und klar ist.” (SR 37)
Reality Check
Ich habe es schon oft erlebt, dass andere Fahrzeuge, die mir gegenüber ausweichpflichtig sind, nur minimale Kursänderungen durchführen, in der Hoffnung, dass wir dann nicht kollidieren, sondern mit ein paar Metern Abstand aneinander vorbeifahren. Dieses Minimalausweichen sorgt aber beim Kurshalter für unnötigen Stress, weil es in vielen Fällen dann sehr knapp wird. Deutliche Kursänderungen wären hilfreich. Das gilt auch, wenn ein Segelboot hoch am Wind oder tief im Raumwind läuft. Falls nötig muss dann eben eine Wende oder Halse gefahren werden, wenn weiteres Anluven bzw. Abfallen nicht möglich ist.
Im nächsten Abschnitt schauen wir uns erstmal die grundlegenden Ausweichregeln an.
Lernkontrolle
Die Fragen, hinter denen ein Kürzel in Klammern steht, sind offizielle Prüfungsfragen.
Wie ist die Gefahr eines Zusammenstoßes sicher erkennbar? (SR 35)
Wenn die Kompasspeilung zu einem anderen Fahrzeug steht und sie sich einander nähern.
Welcher Zeitpunkt ist im freien Seeraum entscheidend für die Verantwortlichkeit (hier = Ausweichpflicht!) der Fahrzeuge untereinander? (SR 42)
Wie müssen Sie Ausweichmanöver durchführen? (SR 36)
- Möglichst frühzeitig,
- durchgreifend, sodass das andere Fahrzeug rasch Ihre Absicht erkennen kann, und um sich gut klar zu halten.